Möglicher NSU-Strippenzieher Marschner wird nicht als Zeuge geladen

Wie von der Bundesanwaltschaft gewünscht, hat das Oberlandesgericht München im NSU-Prozess die Zeugenvernehmung des früheren V-Mannes »Primus« abgelehnt. Der Unternehmer mit dem bürgerlichen Namen Ralf Marschner stand im Sold des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und soll nach Medienrecherchen in seiner Zwickauer Baufirma den untergetauchten Neonazi Uwe Mundlos beschäftigt haben. Nach Zeugenaussagen arbeitete auch die heutige Hauptangeklagte Beate Zschäpe vorübergehend in einem von Marschner betriebenen Szeneladen. Laut Anklage gründeten Mundlos und Zschäpe um die Jahrtausendwende mit Uwe Böhnhardt die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Mehrere Nebenklagevertreter hatten daher im April beantragt, Marschner, der zur Zeit in der Schweiz lebt, als Zeugen zu vernehmen.

Die Schweiz darf nicht zum Rückzugsgebiet verbrannter V- Leute des deutschen Geheimdienstes werden, die  womöglich in Jahrhundert-Verbrechen  verwickelt waren

Im Kern geht es darum, ob das BfV den Aufenthaltsort der 1998 untergetauchten »Bombenbastler« bereits im Jahr 2000 kannte. Damals soll Mundlos alias Max-Florian Burkhardt bei Marschner zu arbeiten begonnen haben. Im selben Jahr hatte die bundesweite Mordserie begonnen, die 2011 dem NSU zugeordnet werden konnte.

»Eine Aufklärung des Netzwerkes NSU und der Möglichkeit der Verhinderung der Morde und Anschläge wird damit unterbunden«, kritisierte im Anschluss Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der die Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik vertritt. »Marschner wäre einer der wichtigsten Zeugen in diesem Prozess gewesen«, so Scharmer. Über die Zeit des Untertauchens in Zwickau und das Innenleben des mutmaßlichen NSU-Kerntrios lägen »bislang kaum Erkenntnisse vor«. Von den drei Neonazis, die 1998 in Jena abgetaucht waren, lebt nur noch Beate Zschäpe. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kamen am 4. November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach zu Tode.

Der V-Mann-Führer des ebenfalls angeklagten Neonazis Ralf Wohlleben mit dem Arbeitsnamen »Richard Kaldrack« war in der BfV-Abteilung Rechtsextremismus/-terrorismus im Bereich »Beschaffung« auch für Thomas Richter alias »Corelli« zuständig. Dieser hatte sich ebenfalls als »Quelle« im Umfeld des Trios bewegt und war 2014 im Alter von 39 Jahren plötzlich verstorben – angeblich an unerkanntem Diabetes.

Ähnlich überraschend ist nun ein Handy aufgetaucht, das »Corelli« rund vier Monate lang benutzt haben soll, bevor er es 2012 bei der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm dem BfV übergab.

Nach neuen Ungereimtheiten beim Verfassungsschutz in der NSU-Affäre hat die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner die Justiz eingeschaltet. Renner bestätigte der Nachrichtenagentur AFP am Freitag einen Bericht des Magazins »Der Spiegel«, dass sie nach dem unerwarteten Fund eines Handys des Geheimdienstinformanten »Corelli« Strafanzeige wegen Unterdrückung von Beweisen gestellt habe. Der 2014 verstorbene V-Mann des Verfassungsschutzes war im Umfeld des rechtsextremen NSU aktiv.

Renner sagte, bei der am Donnerstag bei der Staatsanwaltschaft Berlin eingegangenen Anzeige gegen unbekannt gehe es um die Unterdrückung von Beweismitteln und alle damit im Zusammenhang stehenden möglichen Straftatbestände. Angesichts der wiederholten Unregelmäßigkeiten beim Umgang mit Beweisen müsse nicht mehr nur ein disziplinarrechtliches Vorgehen gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), sondern auch eine mögliche »Organisationsverantwortung« geprüft werden.

»Corelli«, der mit bürgerlichem Namen Thomas R. hieß, soll das Mobiltelefon vier Monate lang genutzt haben, bevor er es 2012 bei der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm seinem Kontaktmann beim Verfassungsschutz übergab.

 Das Amt und die Bundesregierung informierten den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags am Mittwoch in nichtöffentlicher Sitzung darüber. Ausschussleiter Clemens Binninger (CDU) sagte im Anschluss, das Mobiltelefon habe rund vier Jahre lang in einem Panzerschrank der Behörde gelegen, bevor es im Juli 2015 bei einem Bürowechsel gefunden worden sei. Nach BfV-Angaben konnte es erst vor wenigen Tagen dem toten Ex-V-Mann zugeordnet werden. Der CDU-Abgeordnete Armin Schuster sagte mit Blick auf den Verfassungsschutz, er wolle jetzt »nicht in der Haut des Amtschefs stecken«.

Das brandenburgische Innenministerium hat im September 1998 die Festnahme der untergetauchten Neonazis Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verhindert. Das geht aus zwei internen Brandenburger Behördenvermerken hervor, die der "Welt am Sonntag" vorliegen. Damals hatte ein V-Mann aus der rechten Szene (Deckname "Piatto") dem Verfassungsschutz in Potsdam mitgeteilt, dass das gefährliche Trio sich Waffen beschaffen, Raubüberfälle begehen und sich dann ins Ausland absetzen wollte. Daraufhin drang die Polizei in Thüringen darauf zu ermitteln. Das Brandenburger Innenministerium lehnte ab. Die Begründung lautete, der Schutz der Quellen sei vorrangig.

Zu diesem Zeitpunkt wurden Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bereits per Haftbefehl gesucht. Der Bericht von "Piatto" gelangte über die dem Innenministerium zugeordneten Verfassungsschützer an das LKA in Thüringen. Die Beamten dort wollten möglichst schnell den Aufenthaltsort der drei Neonazis herausfinden. Am 16. September 1998 gab es eine Besprechung zwischen den Dienststellen. Der Präsident des Thüringer LKAs verlangte von den Brandenburgern schriftliche Berichte, um richterliche Beschlüsse zur Überwachung zu erwirken. Doch die Verfassungsschützer waren nicht bereit, den Ermittlern zu helfen.

Der erste von mindestens zehn Morden, die dem NSU zugeschrieben werden, wurde dann am 9. September 2000 in Nürnberg begangen. Anwälte, die im NSU-Prozess Angehörige der Opfer vertreten, kritisieren das Vorgehen des Verfassungsschutzes scharf. "Das Innenministerium hat die Festnahme der drei vereitelt und so die spätere Mordserie des NSU ungewollt erst ermöglicht", sagt Thomas Bliwier von der Hamburger Kanzlei BDK. "Bis heute verschleiern Brandenburger Behörden, dass sie damals dem Quellenschutz Vorrang vor der Festnahme der Gesuchten gegeben haben und die Polizei im Regen stehen ließen."

Um die brisanten Vermerke hatte es im Münchner NSU-Prozess schon Streit gegeben. Im Juli 2015 sagte der brandenburgische Verfassungsschützer Reiner G., der frühere V-Mann-Führer "Piattos", im NSU-Prozess zwar aus, blieb aber vage. Auf Antrag von Nebenklageanwälten ließ Richter Manfred Götzl Unterlagen, die G. mitführte, beschlagnahmen und zu den Gerichtsakten nehmen. Bis vor Kurzem wehrte sich das Potsdamer Innenministerium entschieden dagegen, die Dokumente in den Prozess einzuführen, da "das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde".