Steht die Ukraine vor der Kapitulation?

Oder kann es sich in Friedensverhandlungen retten und Gebietsverluste akzeptieren?

Kolumne von Jürgen Meyer  7/24


AFP Nazi Asow Kinder - Ausbildung. Der letzte "Volkssturm"?

Die Situation für die Ukraine im Krieg mit Rußland wird trotz massiver Waffenlieferungen durch die Nato immer dramatischer.

Während Selenski von 31 000 toten ukrainischen Soldaten sprach, gehen russische Medien von weit über  500 000 Opfer aus - während die russische Regierung etwa 20 % also 80 % weniger Opfer auf der eigenen Seite einräumt. Das wären dann demnach 100 000 gefallene russische Kämpfer - inklusive der damals  gefallenen Wagner-Kämpfer.

Offensichtlich ist aber die Raketentechnologie und Waffentechnik Russlands den Nato-Waffen weit überlegen, die übrigens schon seit 2014 massiv in die Ukraine gepumpt werden.

Aber vor allem geht den Ukrainern das Personal aus. Es gibt nicht mehr genug Soldaten, die auch durch Zwangsrekrutierungen nicht ausreichend herangekarrt werden können. 

Stattdessen machen sich erste Auflösungserscheinungen der ukrainschen Armee sichtbar und Selenskij fängt an umzudenken - um zu retten was noch zu retten ist.

Ende Juni hat Wladimir Selenskij den Kommandeur der Vereinigten Kräfte der Streitkräfte der Ukraine, Juri Sodol, entlassen. Der Entlassung ging ein massiver medialer Angriff auf den General voraus.

Zunächst wurde Sodol von der Rada-Abgeordneten Marjana Besuglaja kritisiert. Ihr zufolge hätten seine Aktionen den russischen Durchbruch nach Torezk ermöglicht. Während sich die ukrainischen Kämpfer zurückzogen, hätte der General selbst in Odessa gesoffen.

"Es scheint, dass General Sodol nicht nur verbrecherische Fahrlässigkeit demonstriert, sondern auch eine Absicht, und für den Feind arbeitet", schrieb die Abgeordnete auf ihrem Telegram-Kanal.

Der Stabschef der Asow-Nazi-Brigade Bogdan Krotewitsch ging noch weiter und reichte gegen Sodol eine Klage beim Staatlichen Ermittlungsbüro der Ukraine ein. Er beschuldigte Sodol, "mehr Soldaten als jeder russische General" getötet zu haben.

Das von der Washington Post angeführte Dokument beinhaltet eine lange Liste an Vorwürfen: von Fehlern bei der Verteidigung von Mariupol bis zu unbegründeten Befehlen. Angeblich hätte Sodol dem Asow-Regiment befohlen, ohne die notwendige Menge an Artilleriemunition in die Offensive zu gehen. Dadurch seien tausende ukrainische Kämpfer ums Leben gekommen und die Ukraine habe Gebietsverluste erlitten, so Krotewitsch.

Selenski stellte sich auf die Seite des Naziführers und entließ Sodol. Auch das zeigt den starken Einfluß der Neonazis auf Selenskij. 

Sodol bekleidete seinen Posten nur vier Monate lang. Er wurde vom neuen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Alexandr Syrski, eingesetzt. Letzterer erntete ebenfalls Kritik.

"Ist Syrski ein Komplize oder kontrolliert er die Lage nicht?", schrieb Besuglaja. Es lohnt sich zu erinnern, dass vor einem halben Jahr ihre Kritik der Entlassung des Oberbefehlshabers Waleri Saluschny vorausging.

Mit dem "Russen" Syrski als neuen  Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee wird es auch nicht besser.

"Freie" gegen "Sklaven"

Der ehemalige Berater des ukrainischen Präsidialamts Alexei Arestowitsch ist sich sicher: Die Spaltung im ukrainischen Militär wurde dadurch verursacht, dass die Kommandeure das Leben ihrer Untergebenen nicht schätzen. Soldaten werden als Kanonenfutter sinnlos in den Fleischwolf getrieben.

"Nach dem Durchbruch der russischen Truppen bei Torezk werden in naher Zukunft weitere kommen. An einem der Schlüsselabschnitte der Front haben sich sechs benachbarte Bataillone geweigert, die Kampfmission auszuführen. Denken Sie, dass es ein Einzelfall ist? Denken Sie, dass es nicht zunehmen wird?", sagte er in einem seiner Interviews.

Arestowitsch fügte hinzu: Lieferungen aus dem Westen werden nicht helfen, weil "die Wurzel des Problems eine falsche Einstellung zu Menschen ist – und die Menschen zahlen mit fehlender Loyalität heim."

Eine idealistische Alternative zu dieser Herangehensweise zeichnen die ukrainischen Nationalisten. Nach Meinung des bereits erwähnten Luzenko seien "sowjetische" Offiziere an allem schuld. Sie seien Träger einer Kultur, für die "Nötigung und Repressalien, die Tyrannei eines einzigen Führers und Rechtlosigkeit von allen anderen" charakteristisch seien. Für die neue Generation sei der Krieg dagegen "die Sache der persönlichen Wahl". Während sich die alten Kommandeure zu Freiwilligen wie zu "rechtlosen Sklaven" verhalten, behandeln sie die jungen Kommandeure wie "Freiwillige mit Würde".

Das Problem besteht nur darin, dass "Freiwillige mit Würde" aus irgendeinem Grund auf Straßen entführt werden müssen, und dass immer mehr ukrainische Männer die "persönliche Wahl" treffen, über die Theiß (Grenzfluss zwischen Rumänien und der Ukraine) zu fliehen.

Das alles führt dazu, dass auch Selenskij selber anfängt umzudenken.

In der Ukraine gibt es einen neuen alten Politiker. Sein Name: Wladimir Selenskij.

Wenn man alles, was er Anfang des Jahres gesagt hat, mit dem vergleicht, was er in den letzten Tagen im Juni 2024 von sich gibt, wird man zu dem Schluss kommen, dass jemand den Präsidenten mit dem abgelaufenen Gültigkeitsdatum durch jemand anderen ersetzt hat. Scherzhaft könnte man einen Doppelgänger vermuten.

Vielleicht war Donnerstag, der 27. Juni, der Tag, an dem der Austausch unbemerkt geschehen ist.

An jenem Tag gab Selenskij, der nach Brüssel gereist war, um die nächsten "schicksalhaften" Dokumente mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, plötzlich die schweren Verluste seiner Streitkräfte auf dem Schlachtfeld und die Tatsache zu, dass er "nicht mehr viel Zeit hat".

Daher versprach er, "innerhalb von Monaten" einen "Friedensplan" auszuarbeiten und diesen auf dem nächsten Friedensgipfel vorzuschlagen, zu dem Russland eingeladen werden soll.

Nur 24 Stunden später entwickelte dieser Selenskij bei einem Treffen mit dem slowenischen Präsidenten seine Gedanken weiter und erklärte wörtlich Folgendes:

"Es ist sehr wichtig für uns, einen Plan zur Beendigung des Krieges vorzulegen, der von der Mehrheit der Welt unterstützt wird. Das ist der diplomatische Weg, an dem wir arbeiten. […] Es handelt sich um zwei parallele Prozesse: stark zu sein und einen detaillierten, verständlichen Plan zu entwickeln, der noch in diesem Jahr fertig sein wird."

In dieser kurzen Passage sind gleich mehrere Punkte enthalten, die darauf hindeuten, dass Selenskij durch einen Doppelgänger abgelöst wurde.

In den nächsten Monaten solle ein Plan zur Beendigung des russisch-ukrainischen Konflikts vorgelegt werden, erklärte Wladimir Selenskij am Donnerstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel.

Kiew wolle die Feindseligkeiten nicht auf Jahre hinaus verlängern. Selenskij war zur Unterzeichnung eines Sicherheitsabkommens mit der Europäischen Union nach Brüssel gereist, das Kiew Verteidigungshilfe, einschließlich Waffenlieferungen und Ausbildung, garantiert. Bei dieser Gelegenheit erklärte Selenskij, er wolle die Kämpfe nicht auf Jahre hinaus verlängern. Der ukrainische Staatschef sagte auf der Pressekonferenz in Brüssel: 

"Die Ukraine will den Krieg nicht verlängern. Wir wollen nicht, dass er jahrelang andauert."

So deutlich wie selten zuvor sprach er auch über das Ausmaß der Schäden und Opfer, die die Ukraine im Laufe des seit zweieinhalb Jahren andauernden Konflikts zu beklagen hat:

"Wir haben viele Verwundete und Tote auf dem Schlachtfeld. Wir müssen innerhalb weniger Monate einen Plan zur Beilegung des Konflikts auf den Tisch legen."

Das Eingeständnis schwerer Verluste der ukrainischen Streitkräfte steht im Widerspruch zu der Aussage des damals noch rechtmäßigen Präsidenten der Ukraine, seine Truppen hätten in zwei Jahren Kampfeinsatz nur 31.000 Mann verloren.

Die Erklärung über die Bereitschaft, mit Russland zu verhandeln, steht in direktem Widerspruch zu dem Dekret desselben Präsidenten vom 30. September 2022, das den ukrainischen Behörden Verhandlungen mit Putin und Rußland strengstens untersagt. Der neue Selenskij verstößt gegen das Dekret des alten Selenskij!

Selenskij gibt zu: "Haben viele Verwundete und Tote auf dem Schlachtfeld"
 

Und die ständigen Äußerungen über die Entwicklung eines bestimmten "Friedensplans" zeigen, dass der neue Selenskij die "Friedensformel", mit der der alte Selenskij in der ganzen Welt hausieren ging, vergessen hat. Erinnern wir uns: Diese "Formel", die der russische Außenminister Sergei Lawrow treffend als "nichts" bezeichnete, bedeutete in Wirklichkeit "Krieg bis zum siegreichen Ende" – mit der Rückgabe der Grenzen von 1991 und Reparationen vom besiegten Russland. Nach dem zu urteilen, was die Hofschreier des ukrainischen Präsidialamtes sagen, ist davon nicht mehr die Rede.

Hier lohnt es sich, dem Gespräch zwischen den beiden "talking heads" des Teams von Andrei Jermak besondere Aufmerksamkeit zu schenken, dem Leiter eben jenes Büros, das faktisch die gesamte Macht in Kiew übernommen hat und im Übrigen der Hauptorganisator des jüngsten "Friedensgipfels" in der Schweiz war. Es ist schon lange aufgefallen, dass die Thesen, die Jermak als Erstes in der Öffentlichkeit ausprobieren will, immer über die Fernsehmoderatorin Natalija Mossejtschuk und den Hofpolitologen Wladimir Fesenko eingebracht werden. Und natürlich ist es kein Zufall, dass unmittelbar nach Selenskijs lautstarken Äußerungen über den "Friedensplan" am Samstag, dem 29. Juni, eine Videoaufzeichnung eines Gesprächs zwischen diesen beiden Personen auftauchte.

Wir möchten daran erinnern, dass es sich um dieselben Mossejtschuk und Fesenko handelt, die zwei Jahre lang ausführlich über die Unvermeidlichkeit des kommenden "Sieges der Ukraine" sprachen und einen "Krieg bis zum siegreichen Ende" forderten. Die erste war dabei besonders voll von Eifer – erst vor anderthalb Monaten warnte sie die ukrainischen Männer:

"Der SBU wird bei jedem an die Tür klopfen. Die Zeit des Spielzeugs, des Blumenstraußes und der Schokolade in der Ukraine geht zu Ende."

Jetzt, in einem Gespräch mit ihrem Kollegen, ärgerte sie sich über den "Krieg bis zum letzten ukrainischen Mann". Es ist also nicht nur Selenskij, der gegen Doppelgänger ausgetauscht wurde?

Plötzlich gab Fesenko zu, dass die Ukraine einen Krieg mit Russland nicht gewinnen kann. Und er warnte Selenskij vor der Falle, die seine Kiewer Rivalen ihm stellen wollen:

"Wenn Sie Frieden mit Russland schließen – das war's, Sie sind ein Verräter! Wir werden Sie brandmarken: Sie sind ein Verräter, Sie haben verraten, Sie haben diesen Krieg verloren, und so weiter."

Und dann schaltete sich Mossejtschuk selbst in das Gespräch ein und enthüllte tatsächlich den Inhalt von Selenskijs neuem "Friedensplan":

"Noch einmal, man muss den Leuten erklären: Nun, derjenige, der die Hauptstadt, den größten Teil des Territoriums und den Zugang zum Meer behält, verliert den Krieg nicht!"

So sieht es also aus! Das heißt, es geht nicht mehr um die Grenzen von 1991, sondern darum, dass das Regime Kiew und den Zugang zum Meer – also Odessa – behält.

Fesenko stimmte sofort zu:

"Unser Hauptinteresse ist nicht nur die Rückgabe von Territorien! Wir müssen die Macht, die Nation retten! Und das Territorium können wir ein wenig später zurückholen. […] Und die zweite Sache ist, das Land in die Europäische Union und dann in die NATO zu bringen. Das ist die Formel für unseren Sieg!"

Hier ist sie, die ganz neue "Formel" aus dem Munde von Persönlichkeiten, die ihre Ansichten nicht einfach so dramatisch ändern würden – und absolut jeder versteht sie. Eine völlig neue Herangehensweise Kiews an Fragen von Krieg und Frieden!

Es ist schwer zu sagen, was genau der Grund für diese Veränderungen in der Rhetorik Kiews war. Vielleicht war es das Scheitern des berüchtigten "Friedensgipfels", bei dem Selenskij und Jermak vom Globalen Süden (sowohl von denen, die an der Veranstaltung teilnahmen, als auch von denen, die "mit den Füßen abstimmten") gesagt wurde, dass Frieden ohne Russland nicht möglich ist. War es der knapp gescheiterte Versuch eines Attentates auf Selenskij? Vielleicht die mangelnde Bereitschaft der westlichen Länder, alle militaristischen Forderungen Kiews zu finanzieren. Vielleicht der bald drohende Staatsbankrott der Ukraine? Vielleicht war es die Einsicht, dass der Sieg von Donald Trump unvermeidlich ist, während Joe Biden als sein Rivale im Rennen um die US-Präsidentschaft bleibt. Oder vielleicht haben alle diese Faktoren zusammen (vor allem aber die Situation auf dem Schlachtfeld) Selenskijs Team dazu gebracht, die drohende Katastrophe für sich zu erkennen. Daher die neu erwachte "Friedfertigkeit", wie es sie zuletzt sie im Frühjahr 2022 gab, als russische Soldaten vor den Toren von Kiew standen.

Aber es sind die Lehren aus den vom Westen vereitelten Istanbuler Gesprächen, die Russlands aktuelles Verhalten bestimmen. Am 14. Juni hat Wladimir Putin bei einem Treffen mit der Führung des russischen Außenministeriums klar und unmissverständlich den russischen Friedensplan definiert, der die sogenannte Befreiung des gesamten russischen Territoriums, einschließlich der zurückgegebenen Gebiete Neurusslands, und die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine vorsieht.

Darüber hinaus hat der russische Präsident Kiew noch einmal deutlich gemacht, dass im Falle einer verspäteten Antwort "die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen anders sein werden". Und Sergei Lawrow hat bereits wiederholt betont, dass wir die Feindseligkeiten jetzt nicht für die Dauer der Verhandlungen einstellen werden, wie wir es im Jahr 2022 getan haben.

All diese Tricks von Selenskijs Team haben also keinen Sinn – sie sind leicht zu entlarven und zu berechnen. Sie erklären sich aus dem völligen Scheitern der "Friedens-Formel von Selenskij" und laufen auf den Versuch hinaus, einen neuen Plan für einen neuen Selenskij zu entwerfen, um Russland noch einmal täuschen zu können.

Nur echte und ehrliche Verhandlungsbereitschaft und Kompromissfähigkeit wird diese möglichen Gespräche, die der "böse Putin" seit  langem fordert aber nur zum Erfolg führen können.