Civaka Azad: Wer steckt hinter der ISIS 

Eine Bewertung von Civaka Azad ( Kurden-Info-Seite) zu den aktuellen Entwicklungen in Syrien und im Irak

Civaka Azad

Es sollen 2.000 bis 3.000 Angreifer gewesen sein. Ihnen gegenüber standen wohl 25.000, die die Aufgabe hatten, den Angriff abzuwehren. Andere sprechen sogar von 800 Angreifern, die es mit 30.000 auf der Gegenseite zu tun hatten. Welche Zahlen nun auch stimmen mögen, Tatsache ist, dass die Angreifer erfolgreich waren, und das anscheinend ohne Verluste.

 

Die Rede ist von der Übernahme der Stadt Mossul durch die islamistische Organisation „Islamischer Staat Irak und Syrien” (ISIS)[1]. Auf der Gegenseite stand das irakische Heer, doch von „Gegenseite” kann eigentlich gar nicht gesprochen werden, denn das irakische Heer überließ die Stadt freiwillig den Islamisten. Nun fragen sich alle, wie es dazu kommen konnte, dass die Islamisten ohne Widerstand die Stadt Mossul, immerhin die zweitgrößte Stadt des Iraks, einnehmen konnte.

„Wer verstehen will, wie ISIS Mossul eingenommen hat, sollte ihre logistische Spur bis zur syrisch-türkischen Grenze zurückverfolgen”, erklärt der Kolumnist und Nahost-Experte Fehim Taştekin in der türkischsprachigen Zeitung Radikal. ISIS, zunächst unter dem Namen Tawhid und Dschihad 2003 im Irak entstanden, hat es insbesondere seit 2013 im syrischen Bürgerkrieg zu internationaler Berühmtheit geschafft. Zunächst kämpfte sie dort an der Seite der Freien Syrischen Armee (FSA) gegen das Assad-Regime. Später wendete sie sich gegen die FSA und bekämpfte sie. Zuletzt kam es auch zu brutalen Auseinandersetzungen mit anderen islamistischen Gruppierungen wie die Al-Nusra-Front oder Ahrar al-Sham. Gefürchtet wird die Gruppe vor allem wegen ihrer Brutalität und Grausamkeit im Umgang mit ihren Gegnern. Im Videoportal Youtube veröffentlicht sie nach gewonnen Schlachten Bilder ihrer ermordeten Gegner. Unterstützung erfährt die Organisation vor allem von den Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die sich durch ein Erstarken der Islamisten, den Einfluss des Irans und Schiiten in der Region erhoffen.1

Doch kommen wir zurück zum Zitat von Fehim Taştekin und klären auf, was es mit der logistischen Spur der Organisation an der türkischen Grenze zu tun hat. In Syrien agiert ISIS vor allem von den Städten ar-Raqqa und Deir ez-Zor aus, beides Städte, die unter ihrer Kontrolle stehen. Im Norden von ar-Raqqah kontrolliert ISIS mindestens zwei Grenzübergänge zur Türkei. Und von der gegenüberliegenden Seite der Grenze haben die Islamisten in der Vergangenheit auch großzügige Unterstützung erhalten. Während die Golfstaaten durch ISIS den Einfluss der „schiitischen Achse” in Syrien zurückdrängen wollen, war die Organisation für die Türkei ein nützlicher Partner, wenn es darum geht die Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung in Rojava (Nordsyrien) zu bekämpfen.2 Denn neben den oben genannten Kämpfen der ISIS führen die Islamisten seit knapp einem Jahr auch einen brutalen Krieg gegen die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, zunächst ganz offen, nach internationaler Kritik mit verdeckter logistischer Unterstützung auch von der Regierung in Ankara.

Als Mitte Mai in der türkischen Grenzstadt Reyhanli mehrere Autobomben gezündet und mindestens 51 Menschen ums Leben kommen, hält sich lange das Gerücht, dass ISIS hinter diesem Anschlag stecken könnte. Übereilige Erklärungen aus den Reihen der AKP kurze Zeit nach den Anschlägen, dass es sich bei den Tätern um Mitglieder oder Sympathisanten des Baath-Regimes handele, stärken den Verdacht, dass die türkische Regierung etwas verdecken möchte. Denn sollte ISIS tatsächlich hinter den Anschlägen gesteckt haben, könnte dies die Herrschaften in Ankara in starke Bedrängnis bringen, zumal die türkische Unterstützung für islamistische Gruppierungen wie der ISIS im syrischen Bürgerkrieg ein offenes Geheimnis in der Öffentlichkeit ist. Doch was damals noch vermutlich unter den Teppich gekehrt werden konnte, ist spätestens mit der Einnahme von Mossul durch ISIS für alle offensichtlich geworden, nämlich dass die Islamisten auch nicht davor zurückscheuen, ihren einstigen Unterstützern aus der Türkei den Krieg zu erklären. Denn mit der Einnahme von Mossul wurden auch Mitarbeiter des türkischen Konsulats und türkische Sicherheitskräfte in der Stadt von ISIS festgesetzt. Derzeit sollen sich bis rund 100 türkische Staatsbürger in der Hand der Islamisten befinden. Über die Motive darüber, weshalb die ISIS nun auch gegen türkische Staatsbürger vorgeht, kann nur spekuliert werden. Manch einer sieht darin eine Vergeltung dafür, dass die Türkei nun in Syrien zur ISIS konkurrierende islamistische Gruppierungen unterstützt. Andere gehen davon aus, dass die Beziehungen zwischen ISIS und der Türkei anhalten und die Erstürmung des türkischen Konsulats in Mossul lediglich eine kalkulierte Aktion sei, um die Weltöffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. Mitglieder der ISIS haben, kurz nachdem sie die Konsulatsmitarbeiter festgesetzt haben, erklärt, dass diese keine Geiseln sondern Gäste seien, die sich an einem sicheren Ort befinden würden. Und in den türkischen Medien ist man überraschenderweise sehr schnell wieder zur Tagesordnung des politischen Alltags übergegangen und die Entführungen sind bereits so gut wie kein Thema mehr.

Als die Türkei den Krieg von ISIS gegen Rojava unterstützt hatte, warnten kurdische Politiker aus der Region, dass das Feuer, welches die Türkei jenseits ihrer Grenze entfache, auch bald sie verbrennen werde.3 Wenn dieser Fall noch nicht mit den Anschlägen von Reyhanli eingetreten war, so ist er es spätestens nun mit den aktuellen Ereignissen im Irak. Doch die türkischen Verantwortlichen scheinen daraus nicht wirklich viel gelernt zu haben. Denn während nun in der Türkei auf einmal die Wut gegenüber ISIS groß ist, hat die Türkei erst kürzlich eine erfolgreiche Operation der anderen beiden islamistischen Gruppierungen in Syrien, der Al-Nusra Front und der Gruppe Ahrar al-Sham, am türkisch-syrischen Grenzort Kassab unterstützt. Mittlerweile ist der Ort allerdings wieder unter Kontrolle des Baath-Regimes. Eine wichtige Anmerkung an dieser Stelle sei, dass die Türkei ganz aktuell die Al-Nusra Front, den offiziellen syrischen Arm der Al-Kaida, aus ihrer Terrorliste gestrichen hat.

Warum konnte ISIS ohne Gegenwehr Mossul und andere Städte einnehmen?

Es bleibt die offene Frage, warum die ISIS quasi ohne Gegenwehr eine Stadt wie Mossul einnehmen konnte. Und Mossul ist noch nicht einmal ein Einzelfall, auch die Geburtsstadt des irakischen Ex-Diktators Saddam Hussein und seit dem 16. Juni auch die zumeist turkmenisch bewohnte Stadt Tel Afar stehen bereits unter der Kontrolle von ISIS. Ein Grund hierfür wird sicherlich sein, dass ISIS, ganz im Gegenteil zur Situation in Syrien, im Irak eine gewisse Sympathie unter der sunnitischen Bevölkerung genießt. Der Grund hierfür ist vor allem auf das Scheitern des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki zurückzuführen. Dieser hatte kaum Wert darauf gelegt, die sunnitische Bevölkerung des Landes in seiner Politik zu berücksichtigen. Der schiitische Ministerpräsident ist aus diesem Grund auch ein verhasster Mann unter den Sunniten des Landes. Viele von ihnen wünschen sich die Zeit des Baath-Regimes unter Saddam Hussein zurück. Unter dem Ex-Diktator waren die Sunniten im Irak an der Macht, unter Maliki sind es die Schiiten, jeweils zum Leidwesen der anderen Gruppe. Kaum verwunderlich ist es, dass nun in Mossul auch untergetauchte Mitglieder des ehemaligen Baath-Regimes wie Izzat Ibrahim ad-Duri wieder aufgetaucht sein sollen. Ad-Duri war das einzige Mitglied des Baath-Regimes, den die US-Amerikaner nicht zu schnappen bekommen haben. Nun soll er, mittlerweile Generalsekretär der irakischen Baath-Partei, gemeinsame Sache mit der ISIS im Irak machen.

Über die Kapitulation des irakischen Heers vor ISIS gibt es wilde Spekulation. Manche sprechen von einem Schachzug al-Malikis, denn dieser habe durch das Zulassen der Machtübernahme durch die Islamisten im Zentrum des Landes den Notstand ausrufen wollen, um seine Machtbefugnisse zu erweitern. Andere sprechen hingegen von einem Putschversuch der Militärführung gegen die Maliki-Regierung. Fakt ist, derzeit leisten die kurdischen Verbände im Norden des Iraks am Boden den einzigen ernstzunehmenden Widerstand gegen ISIS. Dort kämpfen nicht nur Peshmergekräfte der Autonomen Region Kurdistans gegen die Islamisten, sondern auch die Volksverteidigungseinheiten der YPG am Grenzgebiet zu Rojava. Zeitweise agieren die beiden kurdischen Einheiten gar zusammen, was eine neue innerkurdische Entwicklung darstellt. Als die Islamisten der ISIS nämlich ihre Angriffe auf Rojava konzentrierten, hatte nicht nur die Türkei durch das Schließen ihrer Grenzen die Situation für die Zivilbevölkerung in der Region verschärft, sondern auch die südkurdische KDP beteiligte sich durch das Schließen der Grenzen der Autonomen Region Südkurdistans an dem Embargo gegen die Bevölkerung von Rojava und hat somit zumindest indirekt die Angriffe der Islamisten befördert.

Das irakische Heer hat nun bei seinem Rückzug aus Mossul auch gleich die erdölreiche Nachbarstadt Kirkuk geräumt. Die Stadt Kirkuk, eigentlich seit dem Sturz des Baath-Regimes Streitthema zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der irakischen Zentralregierung, steht derzeit faktisch unter der Kontrolle der kurdischen Autonomieregion. Die Zentralregierung beschränkt sich bei seiner Gegenwehr gegen die ISIS derzeit auf Luftangriffe, doch die Islamisten bauen destotrotz ihre Basis weiter aus. Es stellt sich die Frage, wie die irakische Regierung und die globalen und regionalen Mächte reagieren werden, wenn ISIS die Kontrolle über die größten Erdölraffinerien des Iraks in der Stadt Baidschi oder die Erdölpipelines in Richtung Türkei in der Stadt Kirkuk erlangt.

Und wie stets mit der Mitverantwortung des „Westens”?

Die Entstehung und das Erstarken einer Organisation wie der ISIS sind auf jeden Fall eng verbunden mit der Politik der westlichen Mächte und ihrer regionalen Verbündeten im Mittleren Osten. Die Geburt der Organisation fällt zusammen mit dem Chaos, das die US-Intervention im Irak verursacht hat. Ihr Erstarken ist Folge des Syrienkrieges, bei dem ebenfalls der westliche Einfluss unbestreitbar ist. Es geht hier nicht darum, für Diktatoren wie Saddam Hussein oder Bashar al-Assad Partei zu ergreifen, der Volksaufstand gegen sie ist mehr als legitim. Doch wenn der Westen versucht diese legitimen Volksaufstände zu kontrollieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, sind Folgen, wie wir sie derzeit in Syrien und im Irak erleben, leider unausweichlich. Für die grauenhaften Bilder von Massenexekutionen aus Tikrit und Mossul trägt der Westen also eine Mitschuld. Und wie man sich selbst verbrennen kann, wenn man Organisationen wie die ISIS für das eigene politische Kalkül unterstützt, dafür ist wohl die Türkei das Paradebeispiel.4

Während die ISIS im Irak derzeit einen Erfolg nach dem anderen verbucht, sind ihr im vergangenen Jahr im Norden Syriens, in Rojava, die Grenzen aufgezeigt worden. Sowohl ihre Großoperationen in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) als auch in Kobanê konnten von der Volksverteidigungseinheiten (YPG) erfolgreich abgewehrt werden. Der erfolgreiche Widerstand in Rojava gibt Hoffnung für einen sonst düsteren Ausblick für die Region.5 In Rojava haben die dort lebenden Kurdinnen und Kurden gemeinsam mit allen Volksgruppen der Region ein demokratisches Gesellschaftssystem errichtet. Und so haben auch all diese Volksgruppen bei der Verteidigung dieses Systems gegen die ISIS mitgewirkt. Einen über Volks- und Konfessionsgrenzen überschreitenden Widerstand für eine gemeinsame demokratische Zukunft bedarf es nun auch im Kampf gegen die ISIS im Irak. Der Widerstand von Rojava könnte da als Vorbild dienen.

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Zur Unterstützung der ISIS durch die Golfstaaten siehe das Interview mit Michael Lüders “Kampf gegen ISIS wird Jahre dauern” für die Deutsche Welle am 12.06.2014 [↩]

Zur der Unterstützung und Förderung islamistischer Gruppierung in Syrien für den Kampf gegen Rojava siehe “Kurdischer Puffer oder islamistischer Terrorstaat” aus der FAZ vom 11.06.2014 [↩]

In offiziellen Stellungnahmen der Türkei hieß es stets, dass keine Waffen nach Syrien geschickt werden. Doch das Gegenteil geht aus den Angaben der UN und des türkischen Statistikamtes hervor; siehe dazu auch hier [↩]

Zur möglichen Gefahr, die durch die ISIS über die Türkei für Europa ausgehen könnte, sieh das Interview mit Michael Lüders “Es rollt ein Tsunami auf uns zu” im Deutschlandfunk vom 11.06.2014 [↩]

Für einen Einblick über die aktuelle Situation in Rojava siehe auch “Wo Syrien schon demokratisch und frei ist” aus der Welt vom 03.06.2014 [↩]

www.yxkonline.com/index.php/publikationen/pressemitteilungen/458-wer-steht-hinter-isis-eine-bewertung-von-civaka-azad-zu-den-aktuellen-entwicklungen-in-syrien-und-im-irak

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Islamischer_Staat_%28Organisation%29

VON: CIVAKA AZAD

via scharf-links

http://civaka-azad.org/

13.08.2014

»Offenbar ist Gysi schlecht informiert«

Jan van Aken über verunsicherte Grundsätze in der LINKE-Spitze, nötige Unterstützung der Kurden und die Frage, wie die Terrormiliz IS schon morgen gestoppt werden könnte

Jan van Aken ist außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Im Januar bereiste er die irakischen und syrischen Krisengebiete. Mit dem Hamburger Abgeordneten sprach für »nd« Ines Wallrodt.
1
Jan van Aken

nd: Wie finden Sie, was Ihnen Ihr Fraktionsvorsitzender mit seiner Forderung nach Waffenlieferungen an die Kurden eingebrockt hat?
van Aken: Ob er uns etwas eingebrockt hat, weiß ich nicht. Aber was er gesagt hat, ist falsch. Offenbar ist Gysi schlecht informiert.

Die LINKE bereitet also keinen Kurswechsel vor?
Nur weil Gregor Gysi an einem Punkt den Konflikt vor Ort nicht richtig verstanden hat, ist es noch kein Kurswechsel. Ich bin mir sicher, dass weit über 90 Prozent unserer Partei das ebenfalls völlig falsch finden.

Jesidische Tragödie im Nordirak

Im Nordirak spielt sich ein schrechlicke Tragödie ab. Nach einem Überraschungsangriff der Kämpfer vom Islamischen Staat (IS) sind jesidische Kurden in die Bergregion von Sindschar nahe der syrischen Grenze geflohen. Ihr Schicksal ist offen, Deutschland könnte helfen. Über die Frage, wie die Hilfe aussehen soll, ist eine Debatte ausgebrochen. Mehr

Auch andere Linke haben das Gefühl, dass die Grundsätze - keine Waffenexporte, kein militärisches Eingreifen - als Antwort auf akute Situationen in Irak nicht genug überzeugen. Auch der Verweis auf die Schuld der USA und den Irak-Krieg ist unbefriedigend.
In der Tat. Der Verweis auf den falschen Irak-Krieg ist zwar richtig, reicht aber nicht als Antwort auf 40 000 flüchtende Jesiden auf dem Sindschar-Berg. Was wollen diejenigen vor Ort, die den Fluchtkorridor für die Jesiden freigekämpft haben? Die syrischen Kurden von der YPG und die PKK jedenfalls sagen, sie brauchen keine militärische, sondern humanitäre Hilfe. Die Forderung nach Waffenlieferungen kam von Barzani, der ein schmutziges Spiel spielt, um die Unabhängigkeit Nordiraks zu erreichen. Er hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich die politische Unterstützung der Amerikaner durch Waffenlieferungen verschafft.

Was wäre, wenn die Kämpfer vor Ort die Waffenlieferungen wünschten?
In Irak mangelt es im Moment nicht an Waffen. Und es ist auch nicht so, dass die einen mit Flinten und die anderen mit Hightech-Waffen schießen, sondern dass die YPG mit amerikanischen Waffen kämpft, die sie vor wenigen Wochen bei Kobani dem islamistischen IS abgenommen hat. Der wiederum hatte sie bei Mossul von der irakischen Armee erobert, die sie von den Amerikanern geschickt bekommen hatte. Was ich damit sagen will: Egal, an wen man Waffen liefert, man hat niemanden gestärkt, sondern nur den Konflikt befeuert. Das ist für mich das zentrale Argument, in Krisenregionen keine Waffen zu liefern.

Humanitäre Hilfe hält die Terrorgruppe letztlich nicht auf. Wie kann das gelingen?
Warum zieht eigentlich niemand den Vergleich zur Ukraine? Da sickern Separatisten aus Russland ein, deswegen folgen Sanktionen. Hier sickern IS-Kämpfer über die Türkei ein, aber niemand verliert ein Wort darüber. Auch nicht in Richtung Saudi-Arabien und Katar, die die Terroristen seit Jahren unterstützen. Als erstes muss man also massiven Druck auf die Türkei ausüben, die Korridore für IS zu schließen und für YPG zu öffnen.

Bis dieser Druck wirkt, haben die schon vorhandenen IS-Kämpfer neue Massaker angerichtet.
Im Moment gibt es keinen weiteren Vormarsch von IS. Die kurzfristige Lösung ist da - YPG und PKK halten die Stellung.

Sie finden es richtig, den IS militärisch zu bekämpfen?
Ja natürlich. Wir haben Anfang des Jahres in Rojava/Nordsyrien mit YPG-KämpferInnen gesprochen. Die haben zur Waffe gegriffen, weil IS drohte, ihr ganzes Dorf zu vernichten. Das war ihre einzige Chance zu überleben

Warum darf dieser Widerstand nicht von außen unterstützt werden?
Niemand sagt, dass der Widerstand nicht von außen unterstützt werden darf. Aber die Unterstützung muss nicht militärisch sein, die KurdInnen in Rojava selbst fordern im Moment vor allem humanitäre Hilfe - und zum Beispiel Sprengstoffdetektoren, um die Selbstmordattentäter zu stoppen, aber keine Luftangriffe, keine Waffen.

Wie lange wird es dauern, bis man den IS auf die von Ihnen beschriebene Weise stoppen kann?
Zwischen einem Tag und zehn Jahren.

Man weiß es also nicht.
Ganz im Ernst: Es kommt darauf an, wann sich Kurden, Schiiten und Sunniten in Irak endlich einigen, morgen oder in zehn Jahren. Sobald die einig sind, hätte IS keine Chance. Das sind nur ein paar Tausend Mann. Sie konnten Sindschar doch nur angreifen, weil Barzanis Peschmerga sich da zurückgezogen hatten. Wir haben das in Syrien gesehen, wo IS wochenlang am Widerstand der YPG gescheitert ist.

 

Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/942278.offenbar-ist-gysi-schlecht-informiert.html

Gregor Gysi wird wegen "Waffenhilfe" in der Fraktion und Partei ausgebremst

In einem Interview mit der militaristisch-olivgrünen Taz hatte Gregor Gysi eine Militärhilfe für die Kurden und die Unterstützung der Befreiungsbewegung inklusive der verbotenen marxistischen PKK gefordert.

  

Eine Unterstützung der Befreiungsbewegung ist nachvollziehbar und auch die SED, deren letzter Chef in der DDR Gysi war, hatte stets anti-imperialistische Befreiungsbewegungen von PLO, PKK, MLPA , ANC, Frelimo und vielen anderen Rebellengruppen im Kampf gegen den US Imperialismus unterstützt.

Doch ein drohender Genozid ist  für Gysi nur im Irak ein Grund zur Hilfe. Allerdings würde diese Hilfe sich auch gegen die USA und die Nato richten, weil die Nato-Türkei die Kurden ebenfalls massiv bekämpft und der IS sogar zwei Grenzposten an der Grenze zu Syrien überlassen hat.

Zugunsten von Waffenhilfe für den drohenden Genozid an Palästinensern  in Gaza oder an russisch-stämmigen Ukrainern in der Ost-Ukraine sprach Gysi hingegen nicht. Allein deshalb war der Vorschlag zu selektiv und zu unausgegoren. Eine Aufhebung des PKK Verbotes ist allerdings in der Tat überfällig. 

Und vor allem haben die beiden Fraktionschef-Stellvertreter Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch diesen Vorstoß von Gysi scharf kritisiert.  

In einer Erklärung  ruderte Gregor Gysi dann zurück und  er lehnte jede Waffenlieferung in einer Erklärung auf Facebook grundsätzlich ab.  

Es wäre besser gewesen, wenn Gregor Gysi  am Anfang seiner Ausführungen einen Kurdenstaat gefordert hätte. Ein solcher Staat hätte wie jeder Staat der Welt natürlich ein Recht auf Selbstverteidigung. So hätte er die Diskussion um Waffenlieferungen an eine Bürgerkriegspartei umgehen können.  

 Der Außenexperte der Linksfraktion, Jan van Aken, nannte Gysis Vorstoß »total falsch« und erklärte gegenüber »nd«, gebraucht werde vor Ort »nicht militärische, sondern humanitäre Hilfe«. In einer Erklärung, die von Gysi und den beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger unterzeichnet wurde, wird vor einem Genozid gewarnt, »der verhindert werden muss. Jeder Akt der Selbstverteidigung gegen den Vormarsch der Terrorbanden« sei legitim. Die Forderung nach Waffenlieferungen wird in dieser Erklärung nicht erhoben.

Derweil erwägt die Koalition, Iraks Armee doch militärisch zu unterstützen. Er sei »dafür, bis an die Grenzen des politisch und rechtlich Machbaren zu gehen«, so Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Bisher hatte die Bundesregierung nur humanitäre Hilfe für den Irak zugesagt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte an, dass sich noch in dieser Woche ein Sondertreffen der EU-Außenminister mit der Lage in Nordirak befassen werde. 

Das ausgerechnet die CDU Ministerin von der Leyen jetzt Peschmergas und  die marxistische PKK indirekt unterstützen will, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Comic. 

 

 

Im Wortlaut


12.08.2014 Sevim Dagdelen, linksfraktion.de

Auf dem Weg in einen islamistischen Unterdrückungsstaat


 

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Vizevorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe
 

Am Sonntag wählten die türkischen Wahlberechtigten zum ersten Mal direkt ihr Staatsoberhaupt. Was wie ein Fortschritt in direkter Demokratie klingt, ist aber in Wirklichkeit keiner. Die Wahlen fanden unter extrem ungleichen Bedingungen statt. Während der amtierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die geballte Medienmacht auf seiner Seite hatte, sein Amt für den Wahlkampf missbrauchte und scheinbar unerschöpfliche Geldtöpfe – deren Herkunft ungewiss ist – anzapfen konnte, hatten die anderen beiden Kandidaten weniger Chancen auch nur Bekanntheit zu erlangen. Die beiden großen oppositionellen Parteien der faschistischen MHP und der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP hatten sich auf den blassen islamisch-konservativen Religionshistoriker Ekmeleddin İhsanoglu geeinigt. Dessen Hauptnachteile waren, dass er kaum bekannt war und mit seinem islamisch-konservativen Profil viele Säkulare und Aleviten nicht ansprechen konnte. Auch die soziale Frage und das extreme Armutsgefälle in der Türkei machte Ihsanoglu nicht zum Thema. Der autoritäre Ministerpräsident Erdogan, der mit unlauteren Mitteln spielte, gewann die Wahl mit 51,8 Prozent eindeutig, İhsanoğgu erreichte lediglich 38,4 Prozent der Stimmen.

18 Millionen Stimmzettel mehr als Wahlberechtigte

Doch die Wahl fiel nicht so eindeutig aus, wie die offiziellen Resultate es erahnen lassen. Die Wahlbeteiligung lag lediglich bei 74,1 Prozent, was einen Einbruch von fast zehn Prozent im Gegensatz zu den vergangenen landesweiten Wahlen – den Parlamentswahlen von vor drei Jahren – darstellt. Auch Erdoğans Manöver, alle türkischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Ausland wählen zu lassen und für sich zu mobilisieren, lief ins Leere. Mit einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 8,5 Prozent waren die Wahlen für türkische Bürgerinnen und Bürger im Ausland bereits vor dem Urnengang im Land selbst zu einem Desaster für Erdogan geworden. Die AKP-Mehrheit im Parlament hatte dies zum ersten Mal ermöglicht. Auch in der Türkei lief nicht alles rund. Die Existenz von 18 Millionen Stimmzettel mehr als Wahlberechtigte, die Nutzung staatlicher Ressourcen in Erdogans Wahlkampf und andere mysteriöse Umstände ließen die Wahl bereits vorab als nicht fair und gleichberechtigt erscheinen.

Im Wahlkampf machte Erdogan mit anti-armenischen Äußerungen Schlagzeilen. Ein Politiker, der auch knapp 100 Jahre nach dem Beginn des Völkermordes an den Armeniern eben diesen leugnet und rassistische Vorurteile gegen diese Minderheit anheizt, ist nicht in der Lage, die Bevölkerung der Republik Türkei zu einen. Diese diskriminierende Stimmungsmache Erdogans wirft auch ein Schlaglicht auf dessen Zukunftsagenda. Die Wahl von Recep Tayyip Erdogan zum Staatsoberhaupt der Türkei verschlechtert die Chancen für eine soziale, friedliche und säkulare Türkei. Erdogan wird die Islamisierung seines Landes und einen islamistischen Unterdrückungsstaat noch weiter vorantreiben, aber auch außenpolitisch die Türkei stärker auf einen Kurs der Unterstützung von Islamisten in Syrien, im Irak oder in Nordafrika einschwören.

Achtungserfolg für Demirtas

Doch es gab auch einen Lichtblick: Mit 9,6 Prozent hat der Kandidat Selahattin Demirtas immerhin einen Achtungserfolg erringen können. Kurdische Parteien und Politikerinnen sowie Politiker konnten sonst lediglich fünf bis sechs Prozent der Stimmen erreichen. Doch Demirtas erschloss offenbar diesmal auch andere Wählerschichten mit einer Orientierung auf Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Frieden für sich.


linksfraktion.de, 12. August 2014

 

Katja Kipping, Bernd Riexinger und Gregor Gysi

Internationale Gemeinschaft muss mit einer Stimme reden und handeln

Die Vorsitzenden der LINKEN, Bernd Riexinger und Katja Kipping, sowie der Vorsitzende der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Gregor Gysi, geben zu den Vorgängen im Norden des Iraks und in Syrien die folgende gemeinsame Erklärung ab:

Die Ereignisse im Norden des Iraks und in Syrien sind dramatisch. Die barbarischen Gewalttaten der Terrorbanden des "Islamischen Staats" kosten täglich Menschenleben und vertreiben Zehntausende aus ihrer Heimat. Die kalkuliert zur Schau gestellten Gräueltaten durch den "Islamischen Staat", die Bilder vom unermesslichen Leid der Flüchtlinge und das offenkundige Scheitern des Iraks als Staat führen auf der ganzen Welt zu Verunsicherung und zu einem neuen Nachdenken über die richtigen Strategien für eine Beendigung des Konflikts. Zur Wahrheit gehört, dass es den Vormarsch des "Islamischen Staats" nicht geben würde, wenn es den völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak nicht gegeben hätte, und wenn der Westen in Syrien nicht ständig Öl ins Bürgerkriegsfeuer gegossen hätte. Die Terrorbanden des "Islamischen Staats" sind Geschöpfe einer völlig verfehlten und gescheiterten Sicherheitspolitik des Westens, die gescheiterte Staaten in Serie produziert hat und weiter produziert.

Auch als Ergebnis dieser Politik droht heute in der Region nicht weniger als ein Genozid, der verhindert werden muss. Jeder Akt der Selbstverteidigung gegen den Vormarsch der Terrorbanden des "Islamischen Staats" ist legitim. Die internationale Gemeinschaft muss in dieser Krise nach drei gleichberechtigten Prämissen handeln: Akute Konflikteindämmung, politische Deeskalation und humanitäre Hilfe. Dies darf nicht die Stunde von Interventionen werden. Ein dritter Irakkrieg ist keine Lösung. Dies muss die Stunde der Vereinten Nationen werden. Weder der Schutz der Gefährdeten noch eine dauerhafte Friedenslösung werden erreichbar sein, wenn die internationale Gemeinschaft nicht auf Basis des Völkerrechts eine gemeinsame multilaterale Strategie für die Region entwickelt. In dieser akuten Situation der Bedrohung von Hunderttausenden muss die internationale Gemeinschaft in der Region mit einer Stimme sprechen und handeln.

Die wichtigste Voraussetzung für eine solche multilaterale Wende in der internationalen Bearbeitung der Konflikte im Irak und in Syrien ist die Beendigung der aufziehenden neuen Ost-West-Konfrontation. Die USA und Russland müssen als die entscheidenden globalen Großmächte ihre Konflikte im Interesse der Schaffung einer neuen globalen Sicherheitsordnung beilegen. Nur dann haben die Vereinten Nationen auch die Autorität, die nötigen Schritte für eine Verhinderung eines Genozids und eine Beendigung der militärischen Konflikte einzuleiten. Die Welt steht am Scheideweg zwischen einer neuen Ära der Eskalation in Blockkonstellationen und einer Renaissance internationaler Konfliktlösungsmechanismen im globalen Maßstab.

Sofort müssen alle humanitären Bemühungen verstärkt werden, um das Leid der Menschen in der Region zu lindern. Dazu gehört natürlich die Hilfe für Flüchtlinge, von ihrem sicheren Geleit aus dem Konfliktgebiet bis zur Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkünften. Dazu gehört aber auch, dass die Länder des Westens viel mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen, die das Grauen des Bürgerkriegs überlebt haben, an den Grenzen der Festung Europa scheitern. Auch Deutschland muss hier sofort handeln.

 

Quelle: http://www.die-linke.de/nc/presse/presseerklaerungen/detail/artikel/internationale-gemeinschaft-muss-mit-einer-stimme-reden-und-handeln/